Geschichten

„Boah!“
Ehrfürchtig staunend steht der schwarze Hund im Eingangsportal der Dominikanerkirche im Herzen von Maastricht. Licht durchflutet das 700 Jahre alte gotische Gotteshaus mit seinen großen Fenstern und den zum Himmel aufragenden Säulen.
Phil macht einen vorsichtigen Schritt ins Gebäude hinein. Er schnuppert. Er schaut. Er wirft mir einen fragenden Blick zu: „Du? Hier duftet es ganz anders als in deiner Kirche.“ Er schnuppert nochmal. „Nach Kuchen. Nach Kaffee. Und nach Büchern.“

Einen Augenblick lang sind wir einfach nur so da und lassen den Raum und seine Atmosphäre auf uns wirken. Die ganze Kirche ist voller Bücherregale. Überall laufen Menschen umher. Stöbern in Büchern, bestaunen die Kirche. Ganz vorne im Altarraum sehen wir Tische, Stühle und eine Kaffeebar. Da hocken kleine Gruppen und sind im Gespräch vertieft. Familien, Paare und einzelne Besucher schlürfen Kaffee und Tee, quatschen miteinander oder lesen ein Buch.

„Dürfen die das? Einfach so im Altarraum rumsitzen und Kaffee trinken?“ will mein Gefährte wissen. „Tja. Ich vermute schon. Ja. Die dürfen das.“ antworte ich. „Hier werden schon seit 200 Jahren keine Gottesdienste mehr gefeiert. Und heute… ist die Kirche halt eine Buchhandlung mit Café.“

Wir schlendern zur Bar, bestellen Espresso, frischen Pfefferminztee und setzen uns an einen freien Tisch im Altarraum. Eine nette Frau bringt Phil einen Wassernapf und krault ihn am Kopf. Menschen kommen und gehen – viele schenken dem schwarzen Vierbeiner ein freundliches Lächeln.

„Du, Carsten?“
„Ja, Phil?“
„Ich mag diese Kirche.“

„Ich auch“ muss ich zugeben. „Das hat schon was…“
Phil schaut mir in die Augen und legt die Ohren an. „Du siehst irgendwie traurig aus.“
„Nein. Nicht traurig. Nur nachdenklich.“
„Wieso?“
„Weil ich nicht so recht weiß, was dieses Gebäude mit mir macht. Hier haben früher so viele Menschen gebetet und Gottesdienst gefeiert. Und jetzt werden hier Bücher verkauft.“
„Hmmm… Ja… Ich weiß, was du meinst. Aber irgendwie… fühlt’s sich richtig an.“
„Richtig?“ hake ich nach und warte ab.

Phil wirft mir einen wissenden Blick zu. „Schau mal. Die ganze Kirche hier ist voll mit Büchern. Sie ist bis unter die Decke vollgestopft mit Geschichten. Mit Romanen, Krimis, Sachbüchern, Kinderbüchern, Fantasyliteratur und und und.“
„Ja?“
„Genau wie deine Bibel. Die ist doch auch voll mit Liebesgeschichten, mit Krimis, mit historischen Erzählungen. Mit Fantasy und all so nem Zeug…“
Ich überlege kurz – und nicke. „Kann man so sagen.“

„Wenn ihr Gottesdienste feiert, geht’s doch auch die ganze Zeit um Geschichten. Um all die biblischen Geschichten. Um die Geschichten, die die Menschen so erleben. Um Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Um krasse Storys, schöne und traurige Storys. Ums Suchen, Fragen und Wissen. Darum geht’s doch. Ums Leben. Um eure Menschendinge und um die große Frage, ob da noch mehr ist.“

„Dat is echt goed wat de hondje zegt“ unterbricht eine junge Niederländerin Phils Rede. Mittlerweile hat sich eine kleine Menschentraube rund um den schwarzen Hund versammelt und hört gespannt zu. „Amen“ ruft ein Mann dazwischen. Die Baristafrau lehnt an ihrem Tresen und nickt.

„Und heute“ fährt Phil fort „kommen die Menschen immer noch hierher, weil sie Geschichten lieben. Weil sie Sehnsucht haben und träumen. Weil sie ihren Wissensschatz erweitern wollen. Weil sie Fragen haben. Weil sie für ein paar Stunden lang raus aus dem Alltag wollen. Weil die Bücher und all die Geschichten ihre Fantasie anregen und ihnen am Ende einfach gut tun.“
„En omdat de koffie hier zo lekker is.“ ergänzt eine grauhaarige Seniorin.
„Und weil der Kaffee hier so lecker ist.“ bestätigt Phil. „Im Gegensatz zu euren Kirchen und Gottesdiensten, ist dieser Raum hier mehr als gut besucht. Vielleicht könntet ihr von diesem Ort sogar was lernen. Euch ne Scheibe abschneiden…“ beendet Phil sein Ad-hoc-Predigt. Die Menschenmenge applaudiert und löst sich kurz darauf langsam wieder auf.

Einige Minuten lang sitze ich schweigend da und denke nach.
„Du willst also sagen, dass diese Kirche hier nach wie vor ein besonderer Ort ist. Einer, der Menschen Halt und Hoffnung gibt.“
„Ja. Es ist immer noch eine Kirche. Ein Segensort.“ nickt Phil.
Irgendwie muss ich ihm Recht geben. Ich leere die Espressotasse und summe leise „Großer Gott“ in den Kirchenraum hinein.
„Siehste.“ sagt Phil. „Und gebetet und gesungen… wird hier immer noch.“

#gesprächemitphil #geschichten

«
«