Viele Pfeifen. (K)eine Melodie.

„Und? Was sagt der Orgelmann?“
Neugierig wartet der schwarze Hund auf meinen Bericht. Erst kürzlich war er mit mir im riesigen, fast 100 Jahre alten Instrument auf der Empore der Winnweilerer Kirche. Völlig fasziniert hat er die unzähligen, sauber aufgereihten Orgelpfeifen bestaunt. Heute war ein Fachmann vor Ort, um sich die Schäden genauer anzusehen. Trotz Protest durfte Phil nicht dabei sein.

„Naja. Der Zahn der Zeit hat halt genagt. Alles in allem ist das Teil ganz gut in Schuss. Nur der Schimmel. Der ist echt blöd. Über kurz oder lang werden wir uns eine sehr teure Sanierung leisten müssen. Aber vorher machen wir erst mal Ursachenforschung und checken, woher der Schimmel kommt. Ich werd jetzt mal ne Packung Datenlogger bestellen.“
„Daten-was?“
„Datenlogger. Das sind kleine Geräte, die die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit messen und protokollieren. Die werden wir für die nächsten Monate in der Orgel und in der Kirche verstecken und können dann besser abschätzen, wie die weiteren Schritte aussehen müssen.“

„Und bis dahin?“
„Bis dahin nutzen wir die Orgel erst mal ganz normal weiter. Der Schimmel ist zum Glück nicht gesundheitsgefährdend. Wir haben also noch etwas Zeit, um’s dann auch richtig und gut zu machen.“
„Aha.“

„Du, Carsten?“
„Ja, Phil?“
„Wie viele Pfeifen stecken in dem Teil eigentlich drin?“
„Keine Ahnung. Müsste ich ausrechnen. Gib mal ne Schätzung ab.“

Während der Hund überlegt, nehme ich meine Unterlagen zur Hand und beginne zu rechnen.
„Und? Was meinst du?“ frage ich nach ein paar Minuten.
Phil gibt sich siegessicher.„Ich würd mal sagen… es sind… mindestens viertelhundertachtundelfzig. Mindestens.“
„Joa. Mehr oder weniger könnte das hinkommen. Willst du es genau wissen?“
„Klaro.“

„Laut meinen Notizen hat die Orgel 28 Register. Bei 56 Tasten pro Register müssten das also 1568 Orgelpfeifen sein. Ohne Gewähr. Ich kenn mich ja nicht wirklich aus.“
„1568!“ Ruft der erstaunte Hund. „Das ist ne ganze Menge!“
Ich nicke.

„Stell dir mal vor, Phil: Wenn ich jede einzelne Orgelpfeife in die Hand nehmen und reinblasen würde…“ „Warum solltest du das tun?“ unterbricht der Hund meine Rede.
„Sollte ich wohl besser nicht. Aber ich könnte.“
„Naja. Bei den kleinen Pfeifen vielleicht. Die Riesen-Oschis wirst du kaum in der Hand halten können“ grinst Phil.
„Jetzt lass mich doch mal ausreden.“
„Ist ja gut.“

„Also. Wenn ich jede Pfeife rausnehme und ein paar Sekunden reinblase. Sagen wir mal insgesamt 30 Sekunden mit Aus- und Einbau und mit Tröten… Dann bräuchte ich dafür 47.040 Sekunden. Knapp 13 Stunden.“
Der Hund kichert. „Da wärst du ganz schön aus der Puste.“
„Jepp. Das wär ein echt langes Orgelkonzert. Und es wär immer noch kein Lied dabei rausgekommen.“

Einen Moment bleibt Phil still und denkt nach.
„Schade eigentlich, dass du nicht Orgel spielen kannst“ meint er schließlich.
„Hey. Ich hab dir doch sogar was drauf vorgespielt, als wir da waren!“ beschwere ich mich.
„Schade eigentlich, dass du nicht Orgel spielen kannst“ wiederholt der Hund.
„Ist ja gut. Bin halt nicht so musikalisch.“

Phil hält inne und schaut mich an. „Das hab ich nicht gesagt.“
„Bitte?“
„Ich hab nicht gesagt, dass du nicht musikalisch bist.“
„Was meinst du damit?“
„Naja. Vielleicht kannst du kein Instrument spielen. Und wenn du singst, ist das manchmal auch etwas schief…“
Ich lupfe die Augenbraue und warte ab, was noch kommt.

„Ihr Menschen“ sagt der schwarze Hund schließlich „habt doch alle sowas wie eine Lebensmelodie. Mal hüpfst du beschwingt und fröhlich mit mir durch den Wald. Mal trottest du gedankenverloren und düster hinter mir her. Mal singst und tanzt du lustig durch die Gegend. Mal grollst du was in deinen grauen Bart rein.“

Der Hund steht da und strahlt mich an.
„Übrigens ist mir auch aufgefallen, dass dein Gesicht weicher wird und deine Melodie stimmiger, wenn Menschen da sind, die du gern hast. Oder dass du es manchmal schaffst, andere Menschen mit deiner Melodie zu trösten und ihnen Mut zu machen.“
„Das hast du gemerkt?“
„Aber klar doch. Ich bin nämlich auch musikalisch. Wir Hunde haben ein feines Gespür für Melodien. Auch für Eure Laune- und Lebensmelodien. Und weisste was?“
„Was?“
„Ich find’s schön, dass ich ein Teil von deiner Melodie sein darf.“

#gesprächemitphil #lebensmelodie

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