„Wow.“
„Wau?“ Der chillende Hund hebt neugierig seinen Kopf.
„Nein. Nicht Wau. Wow.“
„Was ist Wow?“
„Die Email, die ich gerade bekommen hab.“
„Erzähl.“
„Eine Maria aus dem Saarland hat mich angeschrieben.“
„Kenn ich die?“
„Glaube nicht. Die kommt eigentlich aus Potzbach und ist 81 Jahre alt.“
„Wow.“
„Nee. Nicht das Alter ist wow. Sondern die Geschichte, die sie mir geschickt hat.“
„Jetzt mach’s nicht so spannend. Leg endlich los!“
Also teile ich Marias Geschichte mit Phil. Erzähle von dem kleinen Mädchen, das damals noch Maria Scheidel hieß und mitten im Zweiten Weltkrieg in Potzbach auf die Welt gekommen ist. Ihre Familie hatte einen kleinen Kolonialwarenladen im Dorf. Mit einem Tanzsaal im Dachgeschoss. Da es zu dieser Zeit noch keine Kirche vor Ort gab, traf sich die Gemeinde im Schulhaus, um Gottesdienst zu feiern. Den Nazis war das ein Dorn im Auge. Deshalb haben sie den Katholiken mit einem Dekret die Nutzung der Schule verboten. Die Pfeifer-Tanten (so nennt Maria ihre Tanten) waren darüber so erzürnt, dass sie kurzerhand den Tanzsaal zur neuen „Kirche“ gemacht haben.
„Hatten die denn keine Angst vor den Nazis?“ will mein Hund wissen.
„Vermutlich schon“ grübele ich. „Am Ende waren sie aber vor allem ganz schön mutig.“
„Jepp. Mutig. Wie ging’s dann weiter?“
„Die vier Frauen haben gesagt „Wenn wir keine Kirche haben, dann brauchen wir auch keinen Tanzsaal“. Und dann haben sie ihren Tanzsaal in eine Kirche verwandelt. Der Raum wurde für Gottesdienste genutzt, für Trauerfeiern und Andachten. In den Nachkriegsjahren auch zu Beratungen über Hilfen für Flüchtlinge. Maria schreibt, dass es für die Kinder immer ein total heimeliger Glaubensort war. Irgendwann kamen dann ihr Papa, Georg Scheidel, und Pfarrer Rinnert aus Russland zurück.“
„Aus Russland? Was haben die denn da gemacht?“ unterbricht mich Phil.
„Die waren da in Kriegsgefangenschaft. Keine Ahnung, wie lange.“
„Echt übel.“
„Das ist es. Georg und Pfarrer Rinnert kamen also zurück und haben gemeinsam überlegt, eine richtige Kirche zu bauen. Dafür haben die Pfeifers sogar ihr Grundstück gespendet, so dass in den Jahren 1974 bis 75 die Kirche St. Michael gebaut werden konnte.“
„Moment.“
Mittlerweile steht Phil neben dem Schreibtisch und ist ganz gefesselt von Marias Geschichte.
„St. Michael in Potzbach?“ fragt er. „Ist das nicht die Kirche, die ihr am Sonntag aufgeben werdet?“
„Ja. Genau die Kirche ist das.“
„Mensch. Da ist Maria bestimmt total wütend auf euch.“
„Nee. Ist sie nicht.“
„Ist sie nicht?“
„Maria schreibt, dass sie bewegt ist. Bestimmt auch traurig. Aber vor allem ist sie dankbar für die schöne und spannende Zeit, die sie als Kind in Potzbach hatte. Dass die Geschichte der Potzbacher Kirche Teil ihres Lebens ist und immer bleiben wird.“
Der kleine Hund schnieft. Ich auch.
„Den letzten Absatz aus Marias Mail lese ich dir einfach mal vor. Okay?“
„In Ordnung.“
Maria schreibt: „Abschiede gehören zum Leben; wir wissen es längst. Dass ein lebendiger Geist auch nach dem kommenden Sonntag seinen Weg nach Potzbach findet und dass es Menschen
dort gibt, die dafür eine Antenne haben oder sie neu entwickeln, das wünsche ich dem Ort meiner Kindheit und Jugend von Herzen. (…) Kirche kann ganz anders sein. Das manchmal sehr intensiv erlebt zu haben und es konkret auch jetzt und hier in menschlicher Nähe zu erfahren, das hält meine Hoffnung am Leben.“
„Wow.“
„Wow.“
Beide sitzen wir da und lassen Marias Worte in uns sacken.
„Das ist so eine schöne Geschichte“ meint Phil schließlich. „Spannend. Irgendwie traurig. Und irgendwie schön.“
„So schön, dass wir sie weitererzählen sollten?“ frage ich nach.
„Auf jeden Fall.“ bestätigt der Hund. „Weißt du, was mich besonders beeindruckt?“
„Was?“
„Dass die Maria mit ihren 81 Jahren so einen unfassbar weiten Horizont hat. Dass sie gleichzeitig traurig und dankbar sein kann. Dass sie ohne Zorn Abschied nehmen kann und den Menschen in Potzbach einen lebendigen Geist und eine feine Antenne für Gott und für die Zukunft wünscht. Da steckt so viel Hoffnung drin. Und Zuversicht.“
Ich kraule die Ohren des schwarzen Hundes. „Das hätte ich jetzt nicht besser sagen können.“
„Eins noch.“
„Ja, Phil?“
„Ich glaub, die Welt bräuchte viel mehr Marias. Und noch mehr von den vier Tanten, die keine Angst vor den Nazis haben. Die mutig sind und ihren Plan für eine bessere Zukunft einfach umsetzen.“
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